Mainz, 29. Juni 2018
Es gibt Texte, die schreibe ich fast
täglich um, bevor ich sie Euch zu Lesen gebe. Einerseits versuche
ich dabei korrekt zu recherchieren und Dinge auch mal sacken zu
lassen, wie damals, als der Don mit uns nicht mehr wollte.
Gleichzeitig passiert in diesen schnelllebigen Zeiten so dermaßen
viel, so dass ich manchmal gar nicht mehr mit dem Umschreiben und
Aktualisieren hinterherkomme. Auch möchte ich nicht den Anschein
erwecken, als würde ich Gedanken anderer kopieren und verwerfe daher
dann auch wieder die eine oder andere Textpassage. Und wenn es um ein
Thema wie Nationalmannschaft und Deutschland geht, ist es ein weitaus
schwierigerer Ritt auf der Rasierklinge als über unseren geliebten FSV zu schreiben.
Angefangen hatte alles am Samstag Abend nach dem Spiel gegen die Schweden. Denn so euphorisiert wie viele
andere Menschen war ich nach dem 2:1 überhaupt nicht. „So ist
Fußball“ – mehr ist mir zunächst nach dem Tor von Toni Kroos
nicht eingefallen. Aber ich freute mich für ihn, denn im
Mannschaftssport Fußball finde ich es immer schlecht, wenn ein
individueller Fehler so bestraft wird, wie sein Schnitzer zum 0:1.
Das ging mir bei Loris neulich ähnlich. Und das Tor von Marco Reus
habe ich dem Pechvogel vergangener Turniere sehr gegönnt. Aber ein
komplettes Ausrasten, wie bspw. 2009 in Fürth, konnte ich an mir
letzten Samstag nicht feststellen. Was ist da in meinem Verhältnis
zur Nationalmannschaft irgendwann abhanden gekommen und wie sieht das
jetzt nach dem Vorrundenaus aus?
Auswärtsspiel in Baku 2009
Der Versuch einer Bestandsaufnahme
Mein Verhältnis zur Nationalmannschaft
ist seit meiner ersten bewusst erlebten WM 1982 sehr ambivalent. Bei
näherer Betrachtung hing es auch immer stark von meiner Beziehung zu
Mainz 05 ab. Die erste WM 1982 in Spanien lief ja ähnlich mäßig
an, wie die in Russland. Niederlage gegen Algerien, Sieg gegen Chile
und das Skandalspiel von Gijon gegen Österreich. Spätestens aber
seit dem epischen 8:7 n. E. in dem steilen Stadion von Sevilla gegen
Frankreich, in dem wir 23 Jahre später ein 0:0 bejubeln durften, ehe
der Sevilla FC einfach das Licht ausknipste, war ich erstmals richtig
angefixt. Nach dem verlorenen Finale 1982 gegen Italien (das Fürth
der Nationalmannschaft – ebendieses lernte ich erst später kennen)
lag ich damals als Bub arg verschnupft im Bett und war völlig am
Ende. Da bedeutete mir die Amateur-Meisterschaft von Mainz 05 im
gleichen Sommer gar nichts (mehr). An 1986 habe ich vielleicht wegen der vielen Abendspiele kaum Erinnerungen.
Nach der WM in Mexiko passierte in meinem Fan-Dasein Ende der 80er etwas vollkommen
verrücktes: Mein Verein Mainz 05 stieg von der Oberliga Südwest in
die 2. Liga auf und ich verschlang plötzlich jeden Artikel in der
damaligen jungen Mainzer Rheinzeitung, die 1987 startete.
Nationalmannschaft und 05 kamen sich noch nicht ins Gehege – alles
war gut. Am besten war es 1990 als ich mit Freunden in einem Mainzer
Vorort den Weltmeistertitel feierte – Autochorsos gab es damals
aber glaube ich noch nicht – zumindest nicht in dem mittlerweile
gekannten Ausmaß. Auch die Fahne wurde eher verpönt geschwungen. Am
nächsten Tag erschien die Mainzer Rheinzeitung allerdings in
Schwarz-Rot-Gold mit dem Titel „Deutschland ist Weltmeister“ und
Bilder zeigten Menschen auf Bussen am Schillerplatz stehen. Alles in
allem war das ein Feiern, was man nach heutigen Maßstäben als „mit
angezogener Handbremse“ charakterisieren würde – ganz im
Gegensatz zu der Aussage von Franz Beckenbauer am Finalabend
Deutschland wäre nach der Wiedervereinigung auf Jahre unschlagbar.
Genau dieser arrogante Satz zieht sich auch ein wenig wie ein roter
Faden seither durch Chronik der Nationalmannschaft. Diese Mentalität
wird ja auch von vielen Anhängern der Nationalmannschaft geteilt,
zumindest bis zum vergangenen Mittwoch. Und das ist vielleicht auch
einer der Gründe, warum gerade auch in Deutschland viele Fußballfans
mit der Nationalmannschaft und der in den nächsten 24 Jahren
eingeheimsten Erfolge nicht viel anfangen können bzw. sogar eine
große Abneigung gegen diese entwickelt haben.
Bei mir waren in den 1990ern die Claims
weiter perfekt abgesteckt. 05 spielte immer in der 2. Liga, die
Nationalmannschaft flog zweimal im Viertelfinale raus, aber ich
schaute 1994 auch um 3 Uhr nachts irgendwelche belanglosen
Vorrundenspiele ohne deutsche Beteiligung, denn WM war bei meinen
Freunden und mir Kult genauso wie Stefan Raab mit „Börti Vogts“.
1998 blieb ich nach der Niederlage gegen Kroatien im Turnier
verhaftet, da meine französischen Kolleginnen und Kollegen meines
französischen Arbeitgebers ihr „Sommermärchen“ bei ihrer
Heim-WM weiter feierten und ich mitbekam, wie ungezwungen man sich
für die Mannschaft seines Heimatlandes freuen kann. Das stand im
krassen Gegensatz zum Verhalten einzelner Deutscher, die in Lens beim
WM-Vorrundenspiel gegen Jugoslawien genau vor 20 Jahren einen
französischen Polizisten halb tot schlugen. Irgendwie war ich da
immer ein wenig irritiert, wie das viele andere Nationen hinbekommen,
so unbeschwert zu feiern, z.B. später auch meine spanischen
Kolleginnen. Vier Jahre später, Mainz war gerade bei Eisern Union am
Aufstieg gescheitert, traute man der Nationalmannschaft gar nichts zu
und sie schaffte es bis ins Endspiel. Es gab eine kleine
Euphorie-Welle: „Es gibt nur ein Rudi Völler“ aber das war immer
noch nichts im Vergleich zur Heim-WM 2006. Im Dezember 2002 bekam ich
in Honduras in einer Kneipe mit lauter Olli-Kahn-Postern von
wildfremden Honduranern ein Bier nach dem anderen ausgegeben, wegen
dem hervorragenden Abschneiden der Mannschaft in Japan und Südkorea
und weil ich Deutscher war...
Rollis der Sektion Gerstensaft in Helsinki 2008
Für die Heim-WM war ich als ehrenamtlicher Fanbetreuer der französisch- und spanischsprachigen
Besucher im Einsatz. Mainz 05 machte zwischenzeitlich seinen Traum
wahr und spielte endlich Bundesliga, bekam WM-Karten zugeteilt und
reichte diese an uns 05-Fans weiter – eine Aktion, die ich auch
heute noch sehr sehr groß finde. So besuchte ich auch ein paar
WM-Spiele, die sich von 05-Spielen aber total unterschieden. Ich
„konsumierte“ England-Paraguy in Frankfurt bzw.
Australien-Italien in Lautern. Aber eine Stimmung wie bei 05-Spielen
zu der Zeit kam bei diesen WM-Spielen selbst bei den Engländern
nicht auf. Meine Prio setzte ich 2006 ohnehin darauf, mitzuhelfen,
dass die WM im eigenen Land wirklich dem Motto, unter Freunden Gast
zu sein, gerecht wurde. Als Volunteer war ich in Frankfurt und
Leipzig im Einsatz und werde diese unbeschwerte Zeit, als die Welt
wirklich zu Gast bei Freunden war, in positiver Erinnerung behalten.
Die Euphorie-Welle Nationalmannschaft packte mich erst im September2006 als Manu Friedrich als erster 05er zum Team der
Nationalmannschaft stoß. Und so klappte es zwischenzeitlich ganz gut
mit mir, 05 und der Nationalmannschaft. Denn durch die
UEFA-Cup-Fahrten 2005 nach Armenien, Island und Spanien angefixt,
hatte ich plötzlich große Lust, Fußball im Ausland zu gucken.
Gleichzeitig nahm ich an, dass der Internationale Fußballsportverein
eine einmalige Sache gewesen sein sollte, da die Jungs mit Kloppo
2007 den Gang ins Unterhaus antreten mussten. So flog ich im Oktober
2007 erstmals für ein Spiel der Nationalmannschaft ins Ausland nach
Irland. Reisen u.a. nach Liechtenstein, Finnland, Aserbaidschan und
Russland (mit René Adler im Tor) folgten, aber so langsam begann ich
mit der Nationalmannschaft ein wenig zu fremdeln, zumindest was den
Auswärtsmob angeht. Denn ein Teil des Publikums, das damals auf den
Quali-Spielen unterwegs war, war mit unseren Auswärtsfahrern nicht
zu vergleichen. Bei der Hymne wurde von manchen nicht unbedingt die
3. Strophe gesungen und gerade damals in Baku wurden die Gastgeber
extrem rassistisch dauerbeleidigt. Ich habe mich selten so
fremdgeschämt wie im August 2009 in der Hauptstadt von
Aserbaidschan. 05 stieg im gleichen Sommer wieder auf und plötzlich
fremdelte ich auch ein wenig mit dem Team der Nationalmannschaft als
solches. Kann man die Jungs auf dem Rasen unterstützen, wenn sie im
Liga-Alltag eigentlich immer alle gegen Mainz spielen? Diese
Einstellung änderte sich im November 2010 wieder, da mit Lewis
Holtby und Schü wieder zwei 05er zum Kader der Nationalmannschaft
gehörten. Da Schü einen sauberen Abgang von Mainz hinlegte und bis
2014 ja auch immer wieder nominiert wurde, er den entscheidenden Pass
gab und mit Deutschland 2014 Weltmeister wurde, freute ich mich für
ihn und das Team wirklich – aber das war nicht mit dem zu
vergleichen, wie z.B. das Freuen über den Klassenerhalt letztes Jahr
gegen die SGE oder neulich in Dortmund.
Auswärtsmob in Vaduz 2008
Die Frage, ob mich die WM vielleicht nicht mehr so interessierte, weil sie seit 2006 plötzlich eigentlich
immer die interessierte, die sonst keinen Fußball schauen, stellte
ich mir eigentlich nie. Mit denselben Freunden, mit denen ich schon
1994 mir die Nacht um die Ohren schlug, ließ sich 2010 und 2014 gut
grillen und zwischen den Spielen ein Kigges veranstalten. Das
„Schland“-Gegröhle nervte zwar, aber war im Grunde harmlos. Und
wenn 05er herumgröhlen nervt das sicherlich auch Leute, die nichts
mit Fußball anfangen. Nach der WM 2014 war mir die
„Mannschaft“ wie sie plötzlich hieß, aber irgendwie egal. Die
Wochenenden, die Bundeliga-frei waren, nutzte ich nun, um mal vom
König Fußball loszukommen und plante vielmehr Reisen in entfernte
Länder oder „zur Not“ das nächste 05-Auswärtsspiel. Auch der
DFB tat sein übriges: die vorgefertigten Choreos des
Cola-Fanclubs-Nationalmannschaft und die Eventisierung jedes
Fußballspiels hatten bei mir den Bogen überspannt. Schnappatmung
statt atemlos!
Seit 2015 ist Deutschland mehr und mehr
in der Flüchtlingsfrage gespalten und die schwarz-rot-goldene Fahne
wird von Leuten benutzt, die die Farben, für die diese Fahne seit
1848 steht, sprich, wie es die Seite des Bundestages schreibt, für
„nationale Einheit und bürgerliche Freiheit“ für ihre eigene
Zwecke missbrauchen, um zu spalten und diese Freiheiten
einzuschränken. Gleichzeitig spielen in der Nationalmannschaft
mittlerweile Menschen mit einer anderen Hautfarbe, die manche
Politiker nicht als Nachbarn neben sich wünschen und die
mittlerweile auch daran zweifeln, ob sie deswegen der
Nationalmannschaft die Daumen überhaupt noch drücken sollen. Und
die jetzt ebendiesen Spielern die Schuld fürs Scheitern geben. Lange galt es ja unter vielen aktiven
Fußballfans quasi als hip, jede Niederlage der Mannschaft zu
bejubeln und sich mit dem Gegner zu freuen. Auch die
schwarz-rot-goldene Farbe stand unter Generalverdacht. Sie steht aber
wie bereits geschrieben genau für die Einheit und Vielfalt unseres
Landes. Wenn ich mir daher vor Augen halte, wer in den vergangenen
Wochen darüber schwadroniert hat, der Nationalmannschaft vielleicht
nicht mehr die Daumen zu drücken, weil dort nicht nur Leute mit
weißer Hautfarbe mitspielen, und wer die Farben Schwarz-Rot-Gold für
Spaltung und Hass einsetzt, dann denke ich wirklich, dass es an der
Zeit ist, das eigene Verhalten zu überdenken. Es bleibt auf jeden
Fall zu hoffen, dass in Zukunft viele Fahnen schwenkende Menschen
wissen, wofür diese drei Farben Schwarz, Rot und Gold stehen und
wofür sicherlich nicht. Leider geht es heute nicht mehr um den
Luxus, sich fremd zu schämen, sondern Stellung zu beziehen für die
Vielfalt und die Freiheiten, die unser Land ausmachen – ob mit oder
ohne Weltmeistertitel.
Rot-weiße Grüße,
Christoph – Meenzer on Tour
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