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Anlesekapitel:
Auszug aus dem Kapitel »Das Aschram von Varanasi« des Buchs »Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof«:
Dank Indian Railways wurde mein Aufenthalt in Varanasi noch ein wenig verlängert. Eigentlich sollte ich um halb zwölf nachts mit dem Express weiterreisen. Hundemüde stellte ich mich ans Gleis, nachdem es dieses Mal sogar einen Fahrplan mit Angabe der Gleisnummern im Bahnhof gab. Plötzlich hörte ich eine Ansage auf Englisch, dass der Zug verspätet sei und gegen viertel nach zwei einträfe. Wohlweislich kaufte ich mir schon eine Fahrkarte für die bessere Klasse und durfte nun das Privileg
in Anspruch nehmen, in einem Wartesaal, entweder auf unbequemen Schalensitzen oder auf dem Boden, auf den Zug zu hoffen. Wäre ich in der billigeren Klasse gereist, hätte ich mir unter tausenden schlafender Inder auf dem extrem dreckigen, vollgerotzten, mit Kuhfladen überzogenen Bahnsteig ein Plätzchen suchen müssen, an dem ich im Viertelstundentakt gefragt worden wäre: »Which country ... what's your name ... are you married?« und Schluss mit der Konversation mangels Vokabular, bis die nächste Person gefragt hätte
»Which country ... what's your name ... are you married?« Den Indern fiel bei »Germany« meist nur »Hitler« ein. Dann versuchte ich immer den Menschen zu erklären, dass Hitler nicht gut für Deutschland war, dass Hitler schließlich auch Inder zu vernichten versucht hätte, und dass Hitler für den Holocaust verantwortlich war. Meine Überzeugungsversuche waren immer kläglich gescheitert, da Inder denken »Hitler was a great man for Germany«. Manchmal wünschte ich mir in diesem Land wirklich eine andere Nationalität.
Überhaupt war für mich das Indien im Juni 2003 eine zweischneidige Sache. Geprägt wird ein Land meiner Meinung nach hauptsächlich durch seine Bewohner. Wegen des tagtäglichen Kontakts entstand bei mir eine Art »Hassliebe« gegenüber den Indern und ihren Kindern. Inderinnen hingegen traten mit mir kaum in Kontakt, sodass ich mir über sie keine Meinung bilden konnte. Aber ihre männlichen Landsleute und die Kids waren ein Kapitel für sich. Einerseits wurde ich permanent von Kindern
angebettelt, die meist von ihren Eltern geschickt wurden. Grundsätzlich gab ich Kids kein Geld, sondern Essen, das sie sofort verzehren konnten. Gab ich nichts, wurde ich betatscht, es wurde an meinem Hemd gezogen, und ich gab natürlich erst recht nichts. Aber ich lächelte dabei, und wenn ich mich entfernt hatte, winkten andererseits die Kinder lächelnd zurück, schrieen »Bye Bye«, und ich war wieder versöhnt – indische Hassliebe.
Einerseits drängelten sich beim Einsteigen in den Bus oder am Fahrkartenschalter die Herren immer vor, mir wurde auf den Füßen herumgetrampelt, und ich wurde abgedrängt oder mein Rucksack ungefragt als Sitzplatz benutzt. Aber plötzlich half mir dann andererseits wieder jemand in gutem Englisch beim Kauf des Fahrscheins, oder die Menschen rückten für mich zusammen, damit ich auch noch einen Platz fand, wo es längst keinen Platz mehr gab – indische Hassliebe.
Dass man in Indien immer die Preise aushandeln musste, war mir von vornherein klar. Dass mir immer zunächst ein Touristenpreis genannt wurde, den ich auf das Niveau indischer Realität herunterzuhandeln hatte, war ebenfalls klar. Dass aber nach vereinbarten Preis der Käse auf dem Markt plötzlich teurer wurde, und dadurch auf einmal ein »Käsezuschlag« verlangt wurde, der Rikscha-Fahrer einen »Sonnenscheinzuschlag« forderte, oder der Taxifahrer nicht mehr »happy« mit dem Preis war
und einen »Happy-werde-Zuschlag« verlangte nervte doch sehr. Manches Mal wurde mir auch absichtlich zu wenig Wechselgeld herausgegeben, das war noch nerviger. Andererseits wurden krumme Rechnungsbeträge oftmals zu meinen Gunsten großzügig abgerundet – indische Hassliebe.
Leider wurde ich Tag aus Tag ein von morgens bis abends angequatscht – entweder um mit mir ein Geschäft zu machen – »come to my shop« – oder um Prestige zu gewinnen. Anscheinend haben Inder immer noch ein geringes Selbstbewusstsein, das sie durch ein »Gespräch« mit einem Europäer aufzupeppen versuchen, da viele Landsleute des Englischen überhaupt nicht mächtig sind und man sich so von diesen abheben kann. Ein Interesse an mir persönlich bestand sehr selten. Aber schließlich traf
ich wieder die wenigen Menschen, die gutes Englisch sprachen und mit denen ich sehr viel gemeinsam gelacht oder viel über ihren Alltag gelernt habe, wie vielleicht in keinem anderen Land zuvor – indische Hassliebe.
Aber es existieren in diesem Land Verhaltensweisen und Riten, für die ich leider kein positives Gegenbeispiel nennen kann. Ich trat vom Anfang an den Menschen, wie im Rest der Welt auch, mit dem nötigen Respekt entgegen, der mir als Gast in einem Land eine Pflicht ist, wie ich meine. Doch damit kam ich in Indien nicht sehr weit. Die Menschen waren oft sehr ruppig, auch ihren Landsleuten gegenüber. Den Respekt, der mir in allen anderen Ländern zumindest auf den ersten Blick entgegengebracht
wurde, bekam ich auf eine andere Art und Weise. War man herrisch und autoritär, so bekam man letztendlich das was man wollte – traurig aber wahr. Die überschäumende Neugierde war ein weiterer sehr anstrengender Aspekt, der sich in »Giraffen-Hälsen« äußerte. Alle meine Handlungen, wie Lesen oder Tagebuchschreiben, wurden von sich reckenden Hälsen begleitet. Manchmal spürte ich den Atem des »Giraffen-Halses« direkt neben mir, oder ich sah die Schuhspitzen über dem Rand meines Tagebuchs – auch das war für mich Indien.
Weiterhin war die meist nicht vorhandene Hygiene ein Punkt, der mich wirklich abstieß. Es wurde zwar nicht so penetrant auf die Straße gespuckt, wie in Myanmar, aber dafür wurde permanent auf die Straße gepinkelt und die Kühe mit Abfällen gefüttert. Es stank bei Temperaturen von 40 Grad Celsius sehr oft bestialisch zum Himmel. Zu guter Letzt sei das immer noch bestehende Kastensystem genannt, das mich zur Weißglut treiben konnte, wenn ein Passagier der unteren Kasten seinen bezahlten, reservierten Sitzplatz plötzlich
mit einem Passagier einer höheren Kaste teilen musste, und dieser sich auch noch breit machte, obwohl er diesen Platz nicht reserviert hatte.
Schließlich erzählte mir der 16-jährige Rikscha-Fahrer Lucky, dass er jeden Tag fast 2 Euro als Rikscha-Miete an seinen Boss abdrücken musste, unabhängig davon, ob er auch nur eine Rupie am Tag verdient hatte. Wenn es gut lief, verdiente Lucky am Tag 4 Euro, falls die Touristen erschienen. Lief es schlecht, wie zum Zeitpunkt meiner Reise, verdiente er keine einzige Rupie. Eine fabrikneue Rikscha kostete nicht einmal 100 Euro, sodass sein Boss nach 50 Tagen Rikscha-Vermieten bereits
wieder eine neue Rikscha kaufen konnte. Lucky hingegen musste seine sechsköpfige Familie mit der Rikscha durchbringen und konnte keine Rupie zurücklegen, um sich irgendwann einmal seine eigene Rikscha zu kaufen. Dies ist ein Beispiel für die gesamte so genannte »Dritte Welt«. Die Armen werden immer ärmer und die Reichen oder relativ Reichen werden immer reicher.
Ich zog den Boden den Schalensitzen im Wartesaal von Varanasi vor, denn dort hatte ich wenigstens die Möglichkeit ein Nickerchen zu machen, obwohl die Präsenz von Geckos und Kakerlaken, die um mich herumkrabbelten, nicht unbedingt zum Ausruhen einlud. Im Halbschlaf beobachtete ich das Geschehen auf dem Bahnsteig und traute meinen Augen nicht, als sogar auf Gleis 5 eine anscheinend vom »Rinderwahn« befallene Kuh den Bahnsteig auf- und abmarschierte und Pappkartons wiederkäute. Auf
meiner Fahrkarte war die zynische Bemerkung »Happy Journey« vermerkt, und als die zweite Ansage kam, der Zug würde nun um halb vier Uhr morgens erwartet, machte ich mir langsam Gedanken über Sinn und Unsinn dieser Reise. Was musste ich in einer heißen Juninacht zwischen Kakerlaken und Geckos mitten in Indien sitzen und auf den verdammten Zug warten? Einige Ausländer zieht es bekanntlich nach Indien, um eine geistige Erneuerung in einem »Aschram« zu erhalten. Mein »Aschram«, die Wartehalle in Varanasi-Hauptbahnhof,
führte bei mir nur zu fast vergessenen Gefühlen, in Form sich aufbauender Aggressionen gegenüber Bahnunternehmen. Zum ersten Mal seit Monaten, platzte mir fast der Kragen, als um halb vier gar keine Ansage mehr über den Verbleib des Zuges gemacht wurde. Aber Indian Railways schaffte es nicht, mich und meine Reiselaune zu zermürben, denn nach knapp fünf Stunden Warterei traf der Zug um halb fünf ein, und ich nahm erschöpft und todmüde auf meiner Liege im Schlafwagen Platz.
Glücklicherweise ließ mich der Schaffner im Abteil lange schlafen und so konnte ich die durchgemachte Nacht in meinem »Aschram« alias Wartehalle halbwegs wegstecken. Statt wie geplant um kurz nach sechs traf der Zug erst um halb eins am Nachmittag an meinem Zielbahnhof ein. Von dort startete ich erstmals in Indien mit dem Bus, um eine Strecke von 100 Kilometern zurückzulegen. Im Armaturenbrett des Busses befand sich ein riesiges Loch und das Kühlwasser schoss, einem Geysir ähnlich,
ab und zu aus dem Motorenraum in die Fahrgastzelle empor. Die Straße konnte sich nicht entscheiden, ob sie in besseren Zeiten einmal geteert war, und dieser Teer praktisch vollständig abhanden gekommen war, oder ob die Straße nie geteert war und lediglich einige Teerklumpen »vom Himmel gefallen waren«. Die Landschaft änderte sich während der 5-Stunden-Schlagloch-Pisten-Reise nur gering. Seitdem ich die leuchtend grünen Teeterrassen an den Südhängen des Himalajas verlassen hatte, dominierte nun seit Tagen das
Braun – Indien kurz vor dem Monsun. Aber mit dem Monsun verhielt es sich so, wie mit Indian Railways. Irgendwo waren beide auf dem riesigen Subkontinent hängen geblieben.
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